Tuesday, April 10, 2007

Kunstskandal

Ein großer, ein unfassbarer Kunstskandal erschüttert dieser Tage das Königreich. Von hoch oben im Norden, wo sich Luchs und Rentier gute Nacht sagen, in Umeå, hallt der Aufschrei durch die schwedische Kulturlandschaft. Eine spanische, besser gesagt – und das gefällt mir ganz besonders – eine baskische Performerin, mit dem für hiesige Zungen unaussprechlichen Namen Itziar Okariz erdreistet sich gar ungeheurer Machenschaften: Sie pinkelt vor versammelter Zuhörermannschaft im altehrwürdigen Umeåer Opernhaus einfach auf die Bühne. Im Stehen! Nun könnte man sich fragen: Na und? Jedem Wikinger müsste doch das Herz höher schlagen angesichts dieser Sittennegation, und – insgeheim – tut es das ja auch, jedoch nicht das Herz der Wikingerinnen. Was seltsam ist, denn bei jedem beliebigen skandinavischen Rockfestival sah ich die Mädels reihenweise überall im Stehen pinkeln. Der feine Unterschied ist, vermute ich, dass man so etwas nur ab einem Promille tut, aber nicht vor nüchternem Opernpublikum. Die Gudrun Schyman springt sicher bereits im Karree (sofern sie heute unter ein Promille hat), war sie doch bisher nach der Kinosache von anno dazumals die unangefochtene Pissskandalkönigin, und sämtliche selbsternannten Tugend- und Kulturwächter haben die Pressegeschütze in Position gebracht. Arme Itziar! Musste sie von Donostia fast bis zum Polarzirkel reisen, um noch einen Skandal zu erzeugen. In Deutschland durften wir schon vor siebzehn Jahren im Theater in Annie Sprinkles Muschi gucken, oder ließen unser Gesicht zwischen ihren dicken Milchhupen ablichten, so wie sie auch bereits damals auf die Bühne urinierte. Ein alter Hut also. Die Dielen hat diese Imprägnierung nur haltbarer gemacht, und auch sonst lief nur eine kleine Kulturschockwelle durchs deutsche Land. Geradezu ein Plätschern verglichen mit dem Urintsunami, der nun hier durch Schweden fegt! Aber was konnte auch in Deutschland nach Auschwitz noch schockieren. Nicht mal Annie Sprinkle.

1 comment:

Pamphletterman said...

Kunstskandal –von wegen. Viel ekelatanter finde ich es im Stehen zu pinkeln, als Frau. Ladies, das ist Domänenmobbing in Dreistkultur. Apropos Frauentugenden und des Pudels Kern, äh Sprinkles Muttermund –der lieben Moral: 1.Häuslichkeit, 2.Sparsamkeit, 3.Keuschheit, liebe Itziar sieht anders aus. Gegen 1. haben wir verstoßen –und zwar doppelsinnig, denn Umea klingt allenfalls baskitschig und aus dem Häuschen waren ebenfalls die -buchstäblich mit Inbrunst- getollschockten KulturgeniesserInnen in Nordschweden. 2. hat sie -dem Urinstinkt, denn Urin stinkt, folgend- alles andere als mit Reizen gegeizt. Soviel zur Sparsamkeit. Über 3. und das Stichwort „keusch“ decken wir lieber den Theatermantel des Umeaer Operhauses, waschen unsere Lästerhände im Sprinkle-Brunnen und legen einen dicken Titprint-Zensurdonnerbalken über solch’ Sittendickicht. Halt! Stehengeblieben! Moralisch wird man erst wenn man schon unglücklich ist. Demnach könnten wir nicht unglücklicher sein. Wir kommen ja schon mit angeborenem Konjunktiv zur Welt. „Aber“ ist unsere erste Vokabel. Den Rest beschwert der Banalbasalt aus Kirche und Feudalbürokratie, der in punkto Lebenswertverminderung kulturgeschichtlich ganze Arbeit leistet: aus Ordnungsliebe wurde Pingeligkeit, aus Sparsamkeit Geiz. Aus Reinlichkeit der Waschzwang und aus Pünktlichkeit die Pedanterie. Immer waren es die Philister, die den Spießbürgerspieß umdrehten. Einerseits. Andererseits charakterisierte schon Kant in seiner Sündenhierarchie den Archetyp des deutschen Managers: Faulheit, Feigheit und Falschheit seien die Bretter vor dem Kopf, die Balken vor den Augen derjenigen, die den Splitter zuerst im Auge der anderen erkennen. Das ist sie also: die liebe Doppelmoral –frisch seziert. Die Projektion als das Verfolgen eigener Wünsche in anderen. Insbesondere in patriarchalischen Gesellschaften wird es häufig als propositiv angesehen sich als Y-Chromosomenträger möglichst frühzeitig dauererigiert und ubisexuell zu gebärden nur um ein wenig später und ausgestobterweise zwangszubeharren auf der Jungfräulichkeit der Gattin in spe. Eine Zwitterin –halb Hure halb Mutter –schön wärs, Jungs. Geht nicht! Auch der Orakelonkel Orwell sprach von „Doppeldenk“ –dem vordergründlichen Agi(tie)eren nach moralfesten Prinzipien obwohl es nur darum ging die jeweilige, totalitäre Herrschaftsbackform opportunistisch bewegzubegründen.
Themenschweif –Nein! Wir bleiben bei Frau Sprinkle, diesem Epilady-Zentrum, der selbsternannten Post-Porno-Modernistin, unserer uterusspekulierenden Bühnenbache. Die lokalredaktionelle Filmpraktikantenschaft von Sat1 samt Konsortenkohorten hat ja dunnemals durchaus versucht den mobilmodernen Medienpranger zu installieren...vergeblich: der Skandal als Orgasmus der allgemeinen Empörung bleib aus. Dabei sind die lieben Medienschaffenden selber Schuld: Lasst die Scheisse einfach länger liegen. Schön stinken muss der Haufen. Dann zuschlagen. Sind wir anständiger geworden nur weil es nicht mehr so schön flickt, neuheimatet, amigot, schneidert, parteispendiert, flowtextet und berlinerbankenskandaliert? Ein Skandal ist das, mit dem Skandal.